Ausstellung Magda Csutak
Budapest  25. Mai 2006

Meine Damen und Herren,

ich bin auf das Werk von Magda Csutak aufmerksam geworden durch ihre Teilnahme an einem Mappenwerk internationaler Kunst, das ich in Wien vorgestellt hatte. Der Titel des Mappenwerks lautete Geometrie Geografie,
und unter Geografie war der Donauraum verstanden, sodass alle teilnehmenden Künstler aus einer Stadt an der Donau stammten oder dort wohnten. Die Künstler gehörten auch - wie es der Titel ebenfalls sagt - zur Geometrie, was konstruktiv-geometrisch bedeutet. Wenn man Geometrie Geografie aus heutiger Sicht interpretiert, ergeben sich eine Reihe merkwürdiger Bezüge. So steht Geometrie für Geometrie des Konstruktiven und Geografie steht für Internationalität, also bedeutet das Ganze internationale Ausweitung der Konstruktiv-Geometrischen Kunst, diesmal
bezogen auf den Donauraum.

Eine solche Präzisierung auf ein bestimmtes geografisches Gebiet mutet  uns heute an wie eine noch mögliche Spielweise des Konstruktiven, das heißt wie die Suche nach einer neuen Begründung für eine Kunst des
Konstruktiven. Das ist ein Zeichen, eines von vielen in den letzten Jahrzehnten und Jahren, dass diese Kunst ihren Zenit überschritten hat und auf der Suche nach neuen Annexen ist.

Wir erinnern uns, dass 1975, also vor 30 Jahren, in Bonn eine Ausstellung stattfand mit dem Titel Neue ungarische Konstruktivisten. Auch das war die Suche nach neuer Kraft, nach neuer Motivation. Im Jahr 1975 war eine
Ausstellung Konstruktiver Kunst fast ein nostalgischer Akt und seither gab es zahlreiche solcher Akte. Dabei hatte es eine ganz besondere Bedeutung, wenn von ungarischer Seite neue Konstruktivisten vorgestellt wurden. Wir wissen alle, dass Ungarn zu den echten historischen Mutterländern des Konstruktiven gehört. Man sprach in der Frühzeit des Konstruktivismus in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts von Bildarchitektur, von Kassák, Moholy-Nagy und Bortnyik. Diese Namen warenBegriffe, die dauernd im Bewusstsein waren, wenn von Konstruktivismus die Rede war. Über die Jahre der Höhepunkte, der Gründung der Konkreten Kunst bis zu ihrer Aufsplitterung in verschiedene geometrische Künste und in konstruktive Tendenzen, von der Op Art, Kinetik, Hard Edge,
Minimalismus usw. wissen wir alle gut Bescheid. Bis eben zum Jahr 1975, da die Suche nach neuen Konstruktivisten neue Aktualität besaß.

Kehren wir zurück zu Geometrie Geografie. Wir gehen von den Künstlern aus, für die das konstruktive Gestalten - ich spreche schon seit längerer Zeit nicht mehr vom ‚Konstruktivismus' - diejenige Tätigkeit ist, die sie philosophisch und ästhetisch immer wieder vor neue  Aufgaben stellt. Es sind dies sowohl ältere als auch junge Künstler. Konstruktives Gestalten hält sich dabei nicht mehr wie ursprünglich an den neuen Menschen, die neue Gesellschaft. Aber etwas ist geblieben und wird stets die ultima ratio des Konstruktiven bleiben: ich meine die Disziplin des Konkreten, die Schlüssigkeit der Methode. Gleichzeitig
sucht man gegenüber den zahlreichen Einflüssen aus der sich wandelnden Gesellschaft, den Wissenschaften, der Revolution der Elektronik offen zu sein. Es entstand die Neue Moderne. Man fand, dass die Moderne überhaupt noch nicht in ihren Möglichkeiten ausgeschöpft worden sei.  In Zürich, im "haus konstruktiv", einem der Mutterhäuser des Konstruktiven, fanden im Abstand eines Jahrzehnts zwei ähnliche thematische Ausstellungen statt. Die Titel hießen Regel und Abweichung und Ordnung und Verführung. Das ist schon fast eine dringende Suche nach neuen Möglichkeiten.

Wir haben deshalb m.E. die Situation, dass mit dem Festhalten an der  gestalterischen Disziplin, nennt man es nun Ordnung oder Regel, die Abweichung und die Verführung einhergehen. Man nennt es auch - wie in der Wirtschaft und in der Industrie - die Suche nach Nischen, nach Spezialitäten. Und damit komme ich jetzt endlich zum Werk von Magda Csutak. Sie spricht über die Suche nach Möglichkeiten mit ihren Worten:
Wir leben in einer Zeit, in der unsere Realität vom Bild als
Informationsträger geprägt ist. Die Entwicklung der Bildsprachen ist im Laufe der Kulturgeschichte immer fachspezifischer geworden.

Die Kunst von Magda Csutak ist uns bis heute in den strengen
übersichtlichen Formen der Geometrie begegnet. Geometrie zählt noch nicht zu den Abweichungen, nicht zu den Verführungen - sie ist im Gegenteil Grundlage des Konstruktiven. Magda Csutaks Perspektive geht darüber hinaus zur Verbindung mit den Fachgebieten der Chemie, Physik (Astrophysik) und Mathematik. Ähnliche Verbindungen einzugehen gehört in der Kunst bis anhin zur Seltenheit. In der Mathematik waren es der Satz des Pythagoras, die Fibonacci-Zahlenfolge, das Möbiussche Band, der Mäander sowie verschiedene Methoden der Bildentwicklung. Sie bilden in Skulptur und Malerei einen breiten Kunstbereich, ja man kann sagen, dass sie mit den künstlerischen Mitteln kontaminieren, sie sind die künstlerischen Gestaltungsmittel geworden. Durch ein Zusammenwirken mit den genannten Fachgebieten erstrebt die Künstlerin die Annäherung
in der Bilderwelt, in der noch viele verborgene Rätsel liegen - das sagt sie überzeugend als Visionärin.

Es ist ein neuartiges, großartiges Panorama, das Magda Csutak vor Augen entstehen lässt. Mit Materialien aus Silikaten, die sie nach ihren abbildenden Eigenschaften auswählt, entwickelt sie Bildkonstruktionen.
Die kosmische Welt ist mit Bildmaterial aus dem Teilchenbereich einbezogen. Klangbilder entstehen aus Klangproben der Sonne, aus Impulsen und Wellenadaptionen, Zeichnungen nach einer Abbildung von
Protonen-Bewegung, Zeichnungen, die mit Diamant auf Floatglas geritzt sind.

Dieses großartige Panorama als Ästhetisierung des Realen ist von           
bestürzender Aktualität. Wir können uns dabei nicht mehr auf Kunst und Kunsterfahrung verlassen, es ist eine neue Naturerfahrung, die jetzt in unsere ästhetischen Erfahrungen dringt. Wir haben mit Werken, welche die "Ordnung verführten" - um an den erwähnten Ausstellungstitel zu
erinnern - die Erfahrung gemacht und werden sie jetzt vermehrt machen, dass sie mit dem Begriff des Bildes nicht mehr erfasst werden können. Wer mit der Informationstheorie, der Kommunikationstheorie und der
Semiotik der 50er Jahre in die Ästhetik eingeführt wurde, sieht diese
Werke im Bereich der Semiotik und die Elemente der Konstellationen als
Zeichen. Als weitere Dominante der Erfahrung ist der erweiterte Wahrnehmungsraum einzubeziehen. Da alle die Modelle und Proben, die Magda Csutak uns vor Augen führt, die gewohnte Formstruktur der
Wahrnehmung als ungeeignet erscheinen lassen, werden vom heutigen Betrachter oder Beobachter neue, ungewohnte semantische Entscheidungen zu treffen sein.

Wir leben bereits mit der Erfahrung, dass unsere Welt dezentralisiert wahrzunehmen ist. Wir werden Bestandteil einer fremden Welt. Magda Csutak macht uns einerseits aufmerksam auf die neuen Codes, die wir
wahrzunehmen haben und auf die wir uns semantisch einrichten müssen.
Andererseits ordnet sie die neuen Codes anschaulich zu einer neuen Ästhetik der Naturerfahrung. Dies ist ein Prozess, der uns vor eine neu Größenordnung, vor neue Zeichenkomplexe setzt. Dass wir zu den Codes noch Zutritt haben als Lesende und Schauende und uns nicht in einer Esoterik verirren, ist auch das künstlerische Verdienst von Magda Csutak. Als Prozess ist das zu bezeichnen - wenn man etwa in

einer der jüngsten Meldungen liest -, dass sich das Licht selbst überholt, dass eilige und Rückwärtslaufende Pulse die Physik auf den
Kopf stellen würden. Es scheint, dass die Kunst, die sich damit befasst, wieder vor einem vierdimensionalen Mystizismus steht ähnlich dem, den
Malewitsch vor Augen hatte. Malewitsch hat einmal die Antwort gegeben, das schwarze Quadrat auf weißem Grund sei ein verzweifelter Versuch, die Kunst vom Ballast der Stofflichkeit zu befreien. Dieses Stadium haben wir nie überschritten. Für Magda Csutak ist dies aber eine inspirierende Frage. Für den Betrachter jedoch sind ihre Kunstgegenstände Zeichen zur Erinnerung und Dokumente neuer, ungeahnter Entwicklungen. Dass sie dabei das ganze Panorama um die Null, das "Paradigma der Moderne" konzipiert, ist ein Versuch, allen Operationen um den Zeichenkosmos die Anschaulichkeit einer Figur zu verleihen. Die Null als Figur, das hat der Mathematiker Robert Kaplan gesagt, ist eine leere Präsenz, die ein um das andere Mal den Kontext ins Zentrum rücken muss. Oder es heißt auch:
Betrachtet man eine Null, sieht man nichts. Blickt man aber durch sie hindurch, so sieht man die Welt.

© Eugen Gomringer